Wir leben ohne Utopie. Wenn wir mitten in der Nacht aufwachen, wünschen wir uns, dass das alles aufhört, die Kriege, das Chaos, die Gewalt, die Unsicherheit. Es soll irgendwen anderes treffen: die Nachbarn, Fremde, Leute in anderen Ländern, in Gaza, im Sudan, in der Ukraine.
Wenn wir abends nach Hause kommen, kochen wir Tee, saugen Staub, schieben Sessel zurecht, ziehen unsere Beine an, versuchen zu lesen, werfen die Decke zur Seite, stehen wieder auf, gehen in die Küche, sehen in den Kühlschrank, setzen uns nochmal an den Schreibtisch, dann doch wieder Netflix.
Wir leben im Kalten Krieg 2.0, einer Art Vorkriegszeit. Die einzigen Träume, die gerade machtvoll erscheinen, sind Wiedergänger aus dem letzten Kalten Krieg, imperialistische, autoritäre Alpträume, die sich damals Leute wie Ayn Rand, Ronald Reagan, Margaret Thatcher, der junge Donald Trump oder Putin in seiner KGB-Zeit ausgedacht haben. Sie handeln von einer patriarchalen, binären, "anti- feministischen", "anti-woken", kriegerischen Welt, in der das Recht des Stärkeren, des Mobs, gilt, in der Menschenrechte, Infrastrukturen, soziale Systeme demoliert werden. Wir sperren diese Realität so gut es geht aus, verlagern sie ins Außen, aber alles ist schon längst drinnen.
Der gute, alte Sex-Appeal
"It is Night Outside" ist Monica Bonvicinis erste Einzelausstellung bei der Berliner Galerie Capitain Petzel. Der Titel, der von einer Videoinstallation stammt, klingt so, wie es sich gerade anfühlt. Natürlich geht es um die dunkle Nacht, die sich über die Demokratien gelegt hat, um die Lähmung, Nervosität, die politische Apathie angesichts eines neuen Faschismus. Und, das denke ich zumindest, ist genau jetzt eine gute Zeit für Bonvicini, "Mother Monica", präsent zu sein. Mit ihren legendären Videos wie "Wallfuckin'" (1995/96) oder "Destroy She Said" (1998), ihren architektonischen Hardcore-Interventionen und Installationen war sie in den späten 1990ern und frühen 2000ern eine Frau, die endlich der Männermoderne und den selbstgefälligen boys' clubs von heute so richtig auf die Pelle rückte, ihnen sehr zielgenau in die Eier trat.
Das Tolle an ihr war, dass sie die Debatten um Feminismus und Queerness miteinander verband, dass sie dabei nicht brav und akademisch vorging, sondern den Geist der damaligen Szene mitbrachte: das erweiterte Denken von Post–Minimal, die Baumarkt- und Industrial-Ästhetik von Sixties-Leuten wie Charlotte Posenenske, Imi Knoebel und Blinky Palermo, den improvisierten, rohen Stil von Berliner Clubs, die sich nach der Wende in leerstehenden Industrieanlagen ansiedelten. Und natürlich war da auch dieser Aspekt von Leder und Fetisch: der alte, sophisticated Sex-Appeal der 70er, vom New Yorker Minimal-Gott Robert Morris, der sich 1974 für das Poster seiner Ausstellung bei Castelli/Sonnabend von der Kunstkritikerin Rosalind Krauss nackt, eingeölt, mit Ray-Ban-Pilotenbrille, Wehrmacht-Helm, Metallhalsband und in Ketten fotografieren ließ.
Unschlagbar bis heute, von mir drei fette Flammen-Emojis aus dem 21. Jahrhundert für diesen Auftritt. Und dann ist da natürlich der Fetisch der Darkrooms und Klappen, der ganz klassisch auch etwas mit Anarchie und Aneignung zu tun hat, weil Generationen von Schwulen Toiletten demolierten und Löcher in die Trennwände bohrten, sich auf verlassenen Docks zu anonymem Sex trafen oder sich Lederschaukeln zum Fisten in die leerstehenden Keller hängten.
Fisten und gefistet werden
Natürlich musste man auch lachen angesichts von "Never Again", Bonvicinis raumgreifender Installation aus Stahlgerüsten und an Ketten hängenden Schlingen, mit der sie 2005 den Preis der Nationalgalerie gewann. Lachen angesichts des Gedankens, dass das System und die Institution selbst gefistet werden, wir aber auch. Zugleich fällt mir auf, dass anscheinend damals oder heute niemand, auch ich nicht, viel über dieses "Nie wieder" nachgedacht hat. Nie wieder Krieg und Faschismus, statt Männerfantasien lieber anale Entspannung.
Vielleicht war das gar nicht so ironisch. Dass das eine solche Leichtigkeit hatte, liegt auch an dem verführerischen Look von Bonvicinis Werk, das ja auch um Disziplinierung, Verführung, und Devianz kreist. Da ist diese Pasolini-Teorema-Eleganz, in der immer etwas von Spiritualität und Klassenkampf steckt, die zu einem Markenzeichen geworden ist.
Kaum eine andere Künstlerin hat mit dem Look ihrer Arbeit nachfolgende Generationen feministischer und queerer Kunst so beeinflusst. Aber auch die Bereiche Fashion und Design. Bonvicini steckt genauso in Anne Imhofs Werk wie in dem des neuen Gucci-Kreativdirektors Demna und in unzähligen Bühnenbildern und Displays von High-End-Boutiquen.
Sling und bling statt Klassenkampf?
Diesen ikonischen Status konnte man auch an der ungeheuren Aufmerksamkeit sehen, die ihre Ausstellung "I do You" Ende 2022 in der Berliner Neuen Nationalgalerie erregte, die gleichzeitig auch die Trennung von ihrem langjährigen Galeristen Johann König markierte. Ein knappes Jahr später dann die Nachricht, dass die Galerien Giesela Capitain und Capitain Petzel Bonvicini vertreten. Nun also, zum Gallery Weekend, die erste Einzelausstellung bei Capitain Petzel. Auch wenn da Russland bereits in die gesamte Ukraine einmarschiert war, hat sich seit der Schau in der Nationalgalerie die Welt radikal verändert. Das liegt nicht nur an Gaza, der Ukraine, den ersten 100 Tagen Trump, sondern an einem – auch notwendigen – Paradigmenwechsel in Kunst und Kultur.
Die einstige Begeisterung für Fragen nach Identität, Gender, dann Dekolonialisierung ist einer Art Vakuum gewichen. Der Faschismus kommt, wir müssen auch über Klasse, Infrastruktur, vor allem Demokratie sprechen, um wirklich "woke" zu werden und nicht nur so zu tun. Aber irgendwie klammert sich der liberale Kunstbetrieb an Fragen der Diversität und politischen Korrektheit, einer Art von Tugendhaftigkeit fest. Und schiebt gern mal indigenes Wissen, sling und bling, poetische inbetweenness vor, um linke Politik, Selbstkritik und Veränderung zu vermeiden.
Wie reagiert also Monica Bonvicini, eine Künstlerin, deren Werk und Karriere eng mit Feminismus und Identitätsfragen verbunden ist, auf die aktuelle politische Situation, die sie assoziativ auch im Ausstellungstitel andeutet? Mit diesen Fragen und einem gewissen Zweifel im Kopf schlurfte ich also los zu ihrer Show, an die schon im Vorfeld hohe Erwartungen geknüpft waren.
Auf den Punkt bringen, was los ist
Die Antwort ist relativ einfach: Sie reagiert vor allem als Formalistin, mit absolut präzisen skulpturalen und räumlichen Setzungen und einer Videoinstallation, die mit reduzierten Mitteln, und ohne die politische Lage zu illustrieren, genau auf den Punkt bringt, was gerade los ist. Fangen wir erstmal im ungeliebten Keller des 1964 erbauten ehemaligen "Kunst und Heim"-Hauses an der Karl-Marx-Allee an, einem Paradebeispiel der Ostblockmoderne.
Bis jetzt wurden die weitläufigen Kellerräume häufig eher wie der Wurmfortsatz der Ausstellungen behandelt. Bonvicinis Videoinstallation "It is Night Outside", die sie in der Villla Massimo in Rom drehte, sitzt allerdings wie maßgeschneidert. Schon oben im Glaskubus hört man Rumpeln, das Schleifen von Gegenständen über den Fußboden. Unten im Keller dann zwei lebensgroße Projektionen, die in der Totalen wirken, als ob man eins zu eins in kahle, unbestimmte Räume blicken würde: anonyme Wohn-, Arbeits- oder Schlafzimmer, in denen drei Protagonistinnen, ein junge, eine mittelalte und eine ältere Frau, unablässig Möbel verrücken, herumschleppen, ausprobieren, scheinbar versuchen, sich einzurichten.
Sie ringen um Positionen zum Schlafen, Arbeiten, Sitzen, arrangieren alles immer wieder neu, aber nichts stimmt. Netflix wird eingeschaltet, der Bildschirm bleibt schwarz. Ein Kammerspiel. Immer wieder geht die Kamera ins Close-up, Möbel schieben sich ins Bild, verdunkeln buchstäblich den Zuschauerraum. Es herrscht ständige Unruhe, Nervosität. Man kann die Projektionen nur von einem Punkt aus gleichzeitig sehen. Sonst muss man hin und herlaufen, wie in einer Wohnung, von einem "Zimmer" zum anderen, um voyeuristisch zu gucken, was passiert.
Möbel für eine bleierne Zeit
Oder man setzt sich auf die grauen Strandmon-Ohrensessel, deren Design ursprünglich aus den 1950er-Jahren, also dem Kalten Krieg stammt, von Ikea unverändert übernommen wurde und heute wieder super in unsere bleierne Zeit passt. Das Setting ist auf eine bedrückende Weise unbestimmt. Die Fenster der Räume im Video sind mit schwarzen Filzbahnen verhängt. Es ist buchstäblich dunkel, pechschwarz draußen. Es bleibt dabei offen, ob die Kulissen vielleicht unterirdisch, Teil eines größeren Komplexes, eines Labors, einer Institution oder eines Gefängnisses, eines Unternehmens, eines Theaters sind, oder vielleicht nur kahle Privaträume. Auch die Möbel sind ein anonymer Mix ohne offensichtliches System: Sachen von Ikea, Moderne und Mid-Century, nachgebaute Moderne, ein bisschen Bauhaus, ein bisschen Büro oder Hotel.
Die Frauen, das ist deutlich, können oder wollen sich nicht mit der Situation anfreunden. In ihren fast tänzerischen Bewegungen liegt Widerstand. Tatsächlich, erzählt Bonvicini, sind alle Darstellerinnen in ihrem Alltag auch Aktivistinnen. Man könnte bei diesen Versuchen, sich mit den Räumen und Objekten zu arrangieren, das Design zu nutzen, sich einzurichten, auch an den Aufstieg des ergonomischen Produktdesigns im Kalten Krieg denken. Damals begann man, psychologische und physiologische Prinzipien auf die Konstruktion und Gestaltung von Dingen, Prozessen und Systemen anzuwenden, um menschliche Fehler zu reduzieren, Produktivität zu steigern, die Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu verbessern.
Diese Initiative ging vor allem vom militärisch-industriellen Komplex aus. Für den "Human Engineering Guide to Equipment Design", das 1957 erschienene Standard-Werk der Ergonomie, das unter der Schirmherrschaft der U.S. Air Force herauskam, wurden ungefragt anonyme empirische Daten von tausenden von Solddaten erhoben und systematisch ausgewertet: Körpermaße, Ausdauer, Reaktionszeiten, Wahrnehmungsfehler. Die Prinzipien der human factors aus Luftfahrt und Militär wurden dann auch in der Auto-, Möbel-, Elektronik- und Konsumwaren-Industrie genutzt. Das Design verkörpert immer das Denken der Zeit. Die Ideologie bleibt nicht draußen, sondern ist längst drinnen, eingefangen in den Dingen und auch in uns. Bonvicinis unbehauste, nervöse Videoinstallation macht das spürbar.
Abgelegte Häute
Oben in der Halle geht es dann klassischer, minimalistischer zu, mit neuen signature pieces, in denen, wie so oft bei der Künstlerin, Metallgerüste und Leder kombiniert werden. In diesem Fall geflochtene Gürtel, die fast körperliche Formen annehmen, sich in "Divergent Threads (3014)" wie abgelegte Häute von Riesenschlangen durch modulare, kubische Stahlgerüste winden, bei "Outing Texture (to perceive)" dann um ein zwei Meter hohes zylindrisches Stahlgestell geflochten sind, es einspannen wie ein Korsett, eine ausgefranste, animalische Haut.
Alle Skulpturen orientieren sich an menschlichen Proportionen und sind selbst Körper, Behausungen, Architekturen, gleichzeitig transzendent und unglaublich physisch. Und auch hier durchdringen sich Innen und Außen, Privates und Öffentliches. Zum ersten Mal hat Bonvicini einige der Gerüste orange oder pink eingefärbt, was ihnen etwas geradezu Malerisches verleiht, als würden bunte Linien in den Raum gezogen.
Der bunte Stahl weckt, bei mir zumindest, das Gefühl von minimalistischer Nachkriegsbildhauerei, etwa die leuchtenden Kompositionen von Anthony Caro wie "Early one Morning" (1962). Das ist auch wie eine Ruhepause, ein Ausblenden dieses Spektakulären, Provokanten, das so oft in Bonvicinis Kunst gesehen wird.
Der Geschmack von Godard-Filmen
Sämtliche Skulpturen sind genau austariert, alles ist hier eigentlich total fein, gar nicht Vorschlaghammer. Bonvicini hat die mit Holzpaneelen verkleideten Säulen in der Halle weiß verschalen lassen, damit sie zurücktreten, eine Seitenwand etwas verlängert, damit alles stimmt. Oben in der Galerie dann auch wie eine Art Gegenpol eine Reihe von durchscheinenden, klassischen Kleiderhaken aus transparentem, buntem Glas, gelb, schwarz, türkis, an denen farblich abgestimmte Slips hängen.
Das hat etwas unglaublich Intimes, aber auch etwas Leichtes, Nouvelle-Vague-mäßiges, den Geschmack von Godard-Filmen aus den Sechzigern oder Catherine Deneuve in Jacques Demys "Die Regenschirme von Cherbourg". Bonvicinis poetische Genauigkeit, mit der sie das Erbe der Moderne seziert, zu dem auch der Faschismus gehört, hat etwas Erleichterndes. In diesen beschissenen Zeiten ist da zumindest eine Künstlerin, die weiß, was sie tut.
Insta Note: 8/10